Böhmi - nicht schon wieder!?

Es geht inzwischen vielen auf den Keks. Manche verstanden es schon zum Sendezeitpunkt nicht, manche verstehen es erst jetzt nicht. Es sei zuviel, der Bohei um Böhmi. Als ob es nicht wichtigere Probleme gäbe. So ein "Sendehansel", der mache doch nur PR - sollen wir uns jetzt auch noch um jeden Satiriker scheren? Irgendwie scheint alles gesagt, am umfassendsten und kompetentesten hier über den rechtlichen Aspekt und hier über den verfassungsrechtlichen Aspekt. Da wird nämlich endlich auch mal der Kontext betrachtet, ohne den das Gedicht nicht gesehen werden darf.

Waren das noch Zeiten, als Politiker, Feuilletonisten, Bürgerinnen und Bürger an der Seite einer Satirezeitung standen, die die Grenzen des Erlaubten immer wieder auslotet. Bild von Joachim Roncin (proof), Charlie Hebdo (charliehebdo.fr)

Ich will trotzdem darüber reden. Weil auch ich Journalistin und Künstlerin bin und das darum meinen Berufsstand trifft. Und die Schere im eigenen Kopf sowieso. Vor allem aber, weil es Werte betrifft, die wir uns in Europa über Jahrhunderte hart erkämpft haben. Satire, kabarettistische Kritik und Witz sind in der Geschichte immer auch die letzten Mittel der Bürger gewesen, sich gegen Unrechtsregimes zu wehren und das Leben darin auszuhalten. Darum geht uns das alle etwas an.

Ich lebe in Frankreich und Menschen in meinen Kreisen können nicht verstehen, wie die deutsche Kanzlerin so vorauseilend schon mal mit Erdogan telefoniert hatte. Viele können nicht verstehen, warum - zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags - die Bundesregierung nicht Klartext redet mit dem Antragssteller für eine EU-Mitgliedschaft. Klartext über unsere Werte und warum wir sie nicht aufgeben. War Kanzlerin Merkel nicht an der Seite von Präsident Hollande gestanden, nachdem dieser explizit und vehement die nicht minder respektlose und öfter mal über die Stränge schlagende Satirezeitschrift Charlie Hebdo verteidigt hatte und damit die Freiheiten, die sich Satire nehmen darf, die Kunstfreiheit überhaupt? Waren wir nicht alle an der Seite der Satire gestanden mit unserem #JesuisCharlie ? Ja, das war etwas anderes, ein ganz anderes Kaliber: ein Terroranschlag mit grausam vielen Toten. Absolut nicht zu vergleichen!

Aber Vorsicht: Terror fängt im Kopf an. Er fängt ganz winzig an, mit kleinen Schmähungen von Karrikaturisten, mit Drohungen gegen Journalisten. Gewiss, nicht jeder Hassprediger endet als Massenmörder. Aber der Schritt von einem restriktiven Gedankenregime in reale Verfolgungssysteme ist nur ein marginaler. Intellektuelle in Frankreich glauben, Böhmermann habe mit seinem Beitrag beiden Seiten die Maske vom Gesicht gerissen und bloßgelegt, wie die Schaltstellen der Macht funktionieren. Wie empfindlich dünn die Schutzschicht auf unserer Freiheit ist. In Deutschland dagegen wirft man ihm Kalkül vor. Aber so genial kann er nicht sein, dass er vorhersah, was da alles kommen könnte. Stunk ja. Aber nicht das. Nicht in diesem irrwitzigen Ausmaß.

Inzwischen wirft ihm der türkische Vize-Ministerpräsident öffentlich "ein schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor. Das muss man erst mal sich setzen lassen im Kopf.

Was sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Laut Londoner Charta von 1945: "Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung oder: Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven; unabhängig davon, ob einzelstaatliches Recht verletzt wurde."

Der türkische Vize-Ministerpräsident stellt damit den unbedeutenden "Sendehansel" Jan Böhmermann auf eine Stufe mit Leuten wie den Nazis vor dem Nürnberger Gerichtshof, mit Tätern aus dem Jugoslawienkrieg oder Ruanda, mit Massenmördern und Massenvergewaltigern! Und pikanterweise ... mit der Türkei unter den Ottomanen und ihrem Genozid an den Armeniern. Diese unmenschliche Tat führte nämlich unter anderem zur Etablierung jenes Rechtsbegriffs, auf den sich international viele Länder geeinigt haben.

Wie soll man einen solchen Vorwurf aus solchem Munde lesen? Als Realsatire sicher nicht? Soll Böhmermann auch noch vor den Gerichtshof in Den Haag geschleppt werden? Das wäre nicht nur Realsatire, sondern eine unglaubliche Verniedlichung all der wahren Täter. Oder verschwimmen der türkischen Regierung langsam die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten derart, dass man mit Kanonenkugeln auf Spatzen schießen mag? Wollte man vielleicht auch mal ein bißchen beleidigen?
Hier ist ein Punkt erreicht, wo auch jemand, der Böhmermann nicht mag, sagen muss: So nicht. Das reicht jetzt!

Geht uns alle nichts an? Oh doch! Denn die türkische Regierung erwartet auch nach dieser Entwicklung noch ernsthaft, in die EU aufgenommen zu werden. Sie bekommt Milliarden aus Steuergeldern. Und sie will eines Tages mitmischen bei uns, mitten in der EU. Mit solchen Rechtsauffassungen? Solchen Vorwürfen?

Böhmermann ist kein Einzelfall. Er ist lediglich ein Fall, wo der Arm der türkischen Regierung über die Grenze reichen könnte, bis hinein nach Deutschland. In der Türkei selbst wird eher kurzer Prozess gemacht. Die Übernahme ganzer Redaktionen, Zeitungen macht kritischen Journalisten das Arbeiten unmöglich. Investigative Journalisten werden unter angeblichem Terrorverdacht vor Gericht gestellt - kann sich jemand ausmalen, was sie erwartet, falls sie verurteilt würden? Derweil droht Erdogan sogar dem eigenen Verfassungsgericht. Und zieht mit Beleidigungsklagen gegen alle möglichen Leute los - offenbar hat er etwas an sich, das Kritik beflügeln könnte. Andere Politiker ziehen nach. Seit gestern muss sich einer der bekanntesten Comedians der Türkei vor Gericht verantworten. Weil er angeblich einen Gouverneur mit Tweets beleidigt habe. Einen Gouverneur, der durchaus Grund bot für Kritik. Wir sehen: DIE Türken gibt es nicht. Eine Menge Türken haben unter dieser Regierung zu leiden und schauen genau hin.

Eigentlich wollte ich heute nur von einem eigenen Erlebnis mit Satire und Justiz erzählen. Die Geschichte, wegen der ich kurz vor dem Abitur beinahe vom Gymnasium geflogen wäre. Aus der mir ein Anwalt und 300 Mark Zahlung an den skizzierten Lehrer heraushalfen und die Stimmen vom Anwalt und den anderen Lehrern: Ich sei begabt. Ich sollte doch später mal "was mit Schreiben" machen. Diese Story war mir zu popelig. Wäre mir zu ichbezogen vorgekommen. Aber sie fiel mir nicht ohne Grund ein: Jener Lehrer damals war nicht sehr beliebt, viele Schüler nahmen ihn einfach nicht ernst. Er hätte jene Satire mit Humor nehmen können und vielleicht sogar als Anleitung, genau diese Schüler für sich zu gewinnen. Er hätte etwas im Unterrichtsstil verbessern können. Hätte er nicht reagiert, wäre die Satire eine Woche später vergessen gewesen und hätte nicht so viele Menschen erreicht. Stattdessen aber hatte jener Lehrer wohl Angst gehabt. Angst vor einem Karriereknick in der Politik. Das nämlich hatte ich damals nicht mitbedacht - die politischen Ambitionen, dieses "Strahlen" im Amt. Meine Satire hatte nicht den Menschen beleidigt, sie hätte ihn kaum kratzen müssen, zumal sie nur von einer Schülerin kam. Nein. Sie hat Sand ins politische Getriebe gestreut. Einer Herrlichkeit den Schein genommen. Und darum ist Satire wichtig.

Es gibt eine Petition, die die Bundesregierung bitten will, klar Stellung zu beziehen - hier kann man unterschreiben - es eilt.

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