Der Atem der Geschichte

Ich mache heute viele Worte und drehe mich wohl im Kreis, weil ich kaum die angemessenen Worte finde. Gestern noch war ich völlig sprachlos, wütend, traurig, fassungslos. Ich muss dagegen anschreiben, weil das meine Art ist, Dinge zu verarbeiten und nachzudenken. Auch auf die Gefahr hin, meine LeserInnen zu nerven. Es geht wieder um das Thema Flucht. Aber es geht diesmal um Momente, in denen einen der Atem der Geschichte stärker trifft, als man sich das wünschen mag.

(Foto public domain von pixabay)


Die grauenerregenden Bilder von hilflos verreckenden Flüchtlingen verfolgen uns seit Wochen, ohne dass man sich in der EU kollektiv auf die Brust schlägt mit einem "mea culpa" und endlich aufwacht und gemeinsam hilft. Denn diese Frauen, Männer, Kinder, Neugeborene ersaufen unter Qualen oder sterben auf dem Treck nicht etwa, weil sie "selbst schuld" wären oder sich in der Not Schleppern anvertrauen. Sie gehen drauf, weil es keine sicheren legalen Fluchtwege gibt - die Festung Europa hat auch ohne Zäune schon dicht gemacht gehabt. Mit den skrupellosen Schleppern ist es wie mit Rauschgiftdealern: Wer keinen legalen Weg findet, wirft sich in seiner Verzweiflung auch Verbrechern in die Arme. Und je geringer die legalen Möglichkeiten, desto skrupelloser und krimineller die Banden, die sich daran eine goldene Nase verdienen.

Reagieren wir wirklich noch auf die Bilder von Wasserleichen, von Gemarterten und Leidenden? Wir reagieren wahrscheinlich genau so viel oder wenig darauf wie auf die Meldungen, wonach menschenverachtende Typen in erschreckender Regelmäßigkeit in Deutschland Flüchtlingslager anzünden. Mit Worten distanzieren wir uns: "Pack und Pöbel" scheinen so schön weit weg von unserer Kuschelwelt. Und zynisch konnte man fast immer sagen, die Häuser seien doch leer gewesen. Wenn sie dann doch schon bewohnt waren, die Bewohner zum Glück außer Haus oder rechtzeitig gerettet, bekommen wir das auch schon kaum mehr mit. Doch, natürlich gibt es die Ausnahmen! Menschen, die sich gegen Rechts engagieren. Menschen, die Flüchtlingen helfen. Menschen, die aufstehen, etwas tun, weil sie sonst schier ersticken am Nichtstun der anderen. Menschen, die sich bis ans Ende ihrer Kräfte engagieren - alleingelassen von denen, die wirklich die Macht hätten, im ganz großen Stil eine humanitäre Katastrophe zu lindern. Wir spüren alle: Es reicht nicht. Es reicht nicht, solange noch zu viele PolitikerInnen in der EU vernagelt und verbohrt sind und auf dem Rücken der Schwächsten ihre Personality Shows abhalten, ihr System durchdrücken wollen.

In Calais, auf der französischen Seite des Eurotunnels, hat sich eine eigene Welt gebildet, weil Großbritannien die Flüchtlinge nicht aufnehmen will: Le Jungle, ein Flüchtlingscamp, das selbst die dort lebenden Afrikaner an Dafour erinnert. Etwa 3000 oder 4000 Menschen leben dort in einem Slum, kürzlich vom Hochwasser bedroht, geduldet von der französischen Polizei. In gemeinsamer Solidarität haben sie ein kleines "Ersatzleben" geschaffen, sogar mit eigener Bibliothek. Sie sind "displaced persons", keiner will sie wirklich haben, sie leben in einem der größten Flüchtlingscamps in Westeuropa und wagen kaum, an den kommenden Winter zu denken.

Die schlimmen Bilder aus Mazedonien haben wir im Fernsehen gesehen - das Land will der EU beitreten. Hat irgendein Politiker mal laut gesagt, dass man unter solchen Umständen von einer Mitgliedschaft absehen möchte? Immerhin sind die Mitgliedsländer der EU - eigentlich - an bestimmte Werte, Regeln und Menschenrechte gebunden! Aber das EU-Mitglied Bulgarien lässt Truppen und Panzer an der Grenze zur Türkei und Mazedonien aufziehen und will nun auch einen 160 km langen Zaun bauen. Gegen die Militärinterventionen erheben nur Menschenrechtsorganisationen ihre Stimme - in der Politik schweigt man sich aus. Die Slowakei weigert sich, Menschen aufzunehmen, die keine Christen sind - Ungarn zieht nach. Klarer Verstoß gegen die Menschenrechte und alles, was der EU heilig ist. Aber scheinbar herrscht Chaos in der EU - jeder macht, was er will - auf dem Rücken der Schwächsten der Schwachen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat dazu gesagt:
"This is a human tragedy that requires a determined collective political response. It is a crisis of solidarity, not a crisis of numbers." (Dies ist eine humanitäre Katastrophe, die nach einer fundierten, gemeinsamen politischen Antwort verlangt. Es ist eine Krise der Solidarität, nicht eine Krise von Zahlen.)

Und plötzlich geschieht etwas ganz Winziges - und viele wachen auf. Man kann es nicht genau erfassen, was dieses Winzige genau ausmacht, warum es uns plötzlich berührt, während uns Ähnliches völlig kalt lässt. Gestern gab es diese Momente. Ob sie sich halten werden? Ob sie für Besinnung und Umbrüche sorgen werden?

Es begann mit einem erschütternden Foto von Reuters, das in Windeseile um die Welt ging. Abgedruckt in Zeitungen, verbreitet via Social Media. Viele Redaktionen weigerten sich, den dreijährigen Aylan im roten T-Shirt zu zeigen, wie er ertrunken am Strand nahe der Touristenhochburg Bodrum liegt. Man zeigte den Polizisten, wie er das Kind barg. Seine Familie war vor dem IS geflohen und wollte zu Verwandten nach Kanada. Unter dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik (= fortgespülte Menschlichkeit) und #humanitywashedashore schlugen die Wellen der Emotionen so hoch, dass in vielen Ländern darüber nachgedacht wurde, ob das Foto zu einer ähnlichen Ikone werden könnte wie das vom "Napalm-Mädchen" aus dem Vietnam-Krieg 1972. France Info untersuchte gestern, warum dieses Foto abgesehen von seiner Bildwirkung so sehr traf - es waren vor allem Eltern, die hier ihre eigenen Kinder vor Augen hatten und sich plötzlich mit den Flüchtlingen identifizieren konnten.

Ikonen der Presse-Fotografie aus Kriegs- und Katastrophengebieten sind meist brutal, sind eine Gratwanderung bei der Bewahrung von Menschenwürde. Dass sie zu Ikonen werden, resultiert aus ihren Wirkungen. Ein Foto veränderte die Stimmung bezüglich des Vietnamkriegs - sie kippte langsam zugunsten der Kriegsgegner um. Das Foto des kleinen Aylan ließ selbst ein Boulevardblatt wie The Sun gestern in einer Schlagzeile Cameron aufrufen. Kanada hat spontan zugesagt, mehr Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Ob das Bild des Kindes, dem nur drei Lebensjahre in Not und Unterdrückung gegönnt waren, mehr als nur Betroffenheit und Erschütterung auslösen konnte, wird die Zeit zeigen.

Aber genau in diese Stimmung hinein platzte Ungarns Regierungschef Viktor Orban bei einem Treffen auf EU-Ebene. Seit Jahren ist bekannt, welcher Rechtsruck durch ihn in Ungarn vonstatten ging, wie viele demokratische Errungenschaften er abgeschafft hat und wie er mit Kritik und Gegenstimmen umgeht. Der "kleine Diktator", wie man ihn schon nannte, kann jedoch recht ungehindert schalten und walten - einen Exit wie den "Grexit" gibt es offenbar nur für säumige Zahler und die möglichen Sanktionen traut sich keiner zu verhängen.

Plötzlich gab es wieder einen dieser Momente. Gestern im Heute-Journal, als Marietta Slomka Jean Asselborn interviewte. Asselborn ist Minister für Auswärtige und Europäische Angelegenheiten und Minister für Immigration und Asyl in Luxemburg. Viel Kluges hat er in dem Interview gesagt und dann fällt am Schluss die Contenance und er sagt zur Weigerung Ungarns, Menschen aufzunehmen, die keine Christen sind: "Aber wenn Orban ein Christ ist, dann ist Kim Il Sung auch ein Christ."

Ein Moment des tiefen Atmens, der Gänsehaut im Fernsehsessel. Hat er das wirklich laut ausgesprochen? Ja, hat er. Auch Marietta Slomka brauchte diese Schrecksekunde. Es ist dieser Moment: Verbindliche und immer hohler klingende Worte in der EU gegen Orban seit Jahren und jetzt offenbart einer, wie die Stimmung hinter den Kulissen bei diesem Politikertreffen tatsächlich gewesen sein mag. Anders als bei den offiziellen Presseerklärungen redet er Tacheles. Die Nachrichtenbilder sprechen für ihn, auch Slomka fühlt sich an Bilder von Deportationen erinnert, sagt sie. Die Flüchtlinge wollen lieber sterben als in Ungarns Lager. Von denen sehen wir wenig, aber es ist bekannt, wie grauenhaft die Zustände dort sind***. Menschen werden unter einem Vorwand in Züge verfrachtet, nicht informiert, nicht versorgt, die Züge halten im Niemandsland, halten bei Lagern, die einen anderen Namen nicht verdienen. Es wird geschachert auf dem Rücken der hilflos Ausgelieferten, der Schwachen. Ein "Möchtegerndiktator" befiehlt mal Hü, mal Hott, ob als eiskalter Beweis seiner Macht oder Propagandaspiel, wagt derzeit niemand zu beurteilen. Zu undurchsichtig, zu menschenverachtend, zu irre, was da abläuft.

Und am selben Tag knallt die BBC mit anderen schrecklichen Bildern in die Köpfe, mit Bildern, die auf den ersten Blick und scheinbar so schlimm gar nicht sind. Tschechische Polizisten schreiben Kindern und Frauen Nummern auf den Arm, nehmen sie am Bahnhof fest, stecken sie in Polizeistationen. Ein Aufschrei geht um in der englischsprachigen Welt - die Parallele zum Holocaust ist allzu offensichtlich. Ab sofort wird keins dieser Bilder ohne die Konnotation einer Deportation angeschaut werden können. Die faule Ausrede, man wisse sich nicht anders zu helfen, darf auch und gerade in Tschechien nicht gegen das Geschichtsbewusstsein stehen. Tschechien ist ... ein Mitglied der EU.

Wir in der EU erleben derzeit gehäuft Momente, in denen die Fadenscheinigkeit unserer alten Welt allzu offensichtlich wird. Wir haben uns zufrieden eingenistet in einem System, das alles nur noch nach seinem Finanzwert beurteilt und in dem wir in einem beispiellosen Sicherheitswahn hochrüsten: mit staatlicher und privater Überwachung, mit Geheimdiensten, die blind sind für die Gefahren von Rechts, mit Stacheldraht - oder wie die neue Variante so schön heißt: Razor Wire, Rasiermesserdraht. Unsere Staaten schachern immer häufiger um nationale Egoismen statt um gemeinsame Politik und Solidarität, und viel enthusiastischer um Profitmargen und Geldwerte statt um gemeinsame Werte und Menschenrechte. Wir leben in einem Europa, in dem die reichsten Staaten riesige Profite durch Waffenhandel erwirtschaften, Waffenhandel auch in die arme Welt und in Krisengebiete. Es geht uns prächtig im Weltvergleich, aber wir leisten uns miserabelste Zustände in Flüchtlingscamps, Zustände, wie wir sie vor Jahren nur exotischen Bananenrepubliken zugetraut hätten. Während an den Grenzen Europas das Militär gegen Flüchtlinge eingesetzt wird, könnte man das Militär effektiver zur humanitären Hilfe abkommandieren. Stattdessen lässt man Freiwillige die Drecksarbeit machen, powert Bürgerinnen und Bürger aus, die nicht mehr mitansehen können, was die Politik seit Jahren versäumt.

Denn eines ist in unserem neoliberalen Supersicherheitssystem auf der Strecke geblieben: die Liebe. Die Mitmenschlichkeit. Beides braucht Leben - und Leben ist nun mal verdammt chaotisch und gefährlich. Aber man gilt heutzutage schon als Freak, wenn man diese Wörter in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen nur nennt.

Gestern zeigte Phoenix die britische (!) Filmproduktion "Der Marsch" gleich zweimal. Erschreckend aktuell und zynisch genau wirkten die Dialoge in diesem eindrücklichen Film, der einmal als Zukunftsszenario gedreht worden war. Vor 25 Jahren! Kann eigentlich keiner sagen, das alles wäre unversehens über uns hereingebrochen, das wäre nicht absehbar gewesen. Die reichen Länder dieser Erde haben all die Jahre hindurch an den Stellschrauben gedreht, dass es so kommen musste. Und wenn Filmemacher das 1990 schon in Szene setzen konnten, ist es angebracht, dass die Länder Europas endlich gemeinsam ihren Hintern hochbekommen und wieder das leben, wofür die EU einmal geschaffen worden war.

Der Film von David Wheatley blendet bei der Eskalation sehr gnädig aus und lässt einen Hoffnungsschimmer. Ich denke, genau dieser Zeitpunkt hat sich jetzt genügend angekündigt: Wenn wir uns nicht recht plötzlich auf unsere Menschlichkeit und unsere Werte besinnen, fliegt uns die Welt um die Ohren. Sie wird uns dann jedoch nicht etwa um die Ohren fliegen, weil es Flüchtlinge gibt; sondern weil wir alles getan haben, das Streben nach Geld- und Sicherheitswerten über Liebe und Solidarität zu stellen.

Tausende von engagierten BürgerInnen und hilfsbereite Mitmenschen in ganz Europa zeigen uns derzeit, wie eine menschlichere Gesellschaft aussehen könnte. Sie leben bis hinein in Le Jungle oder Budapest solidarische Alternativwelten der Teilens und Sorgens - auch dort, wo Staatschefs mit Härte und militärischen Mitteln gegen wehrlose Menschen vorgehen, wo Politiker zu geistigen Brandstiftern in ihren Reden werden. Wir alle haben die Möglichkeit, die Gegenwart zu kippen in eine menschenwürdigere Zukunft auf diesem Planeten, der ohne Teilen und globales Miteinander nicht überleben wird. Es ist der Schrei nach Liebe, der aus dem Foto des ertrunkenen kleinen Aylan spricht. Schreien wir ihn ruhig noch ein wenig lauter in die Ohren der Verblendeten, der Brutalen, der Extremisten und derer, die Menschen nur noch nach Geldwert und Zusammenleben nach Überwachungsaspekten beurteilen.

***PS: Im Moment des Absendens dieses Beitrags kommt die Meldung, dass Ungarn die Hilfe der UN (UNHCR) für die Flüchtlinge abgelehnt hat!


Artikel wie diese machen übrigens richtig Arbeit - sie wollen recherchiert sein, Links müssen redaktionell ausgewählt und gegengecheckt werden. Der Artikel muss redigiert und geprüft werden. Dieses Blog soll kostenlos bleiben. Aber jeder, der eins meiner Bücher kauft, unterstützt durch einen kleinen Obolus meine Arbeit! In "Blaue Fluchten" bekommen Menschen ein Gesicht, die ihre Wurzeln verloren haben, die auf der Flucht waren oder nicht ganz in die Welt passen, in der sie leben müssen. Weitere Bücher hier.

Links:
Le Jungle in Calais - ein Fotoessay im Guardian
Le Jungle in Calais - ein Leben in Scham und Solidarität
"Festung Europa" - wie sich Narrative der Politik unterordnen
Heute Journal 3.9.2015: Jean Asselborn über Orban
Schrei nach Liebe - Song von den Ärzten, Lyrics (die Einnahmen aus dem Song gehen an Pro Asyl, meldeten Die Ärzte)
Die NZZ zeigt einen erschütternden Tag im Zeitraffer

7 Kommentare:

  1. 18:30 Uhr - und schon wieder fehlen mir die Worte angesichts der Entwicklung des Tages in Ungarn. Ich würde gern heulen, aber es ist alles so absurd, dass ich noch nicht begreife, ob ich nur im falschen Film bin. Ich würde gern irgendetwas kleinschlagen, aber ich habe leider kein Feuerholz. Ich will diese Welt nicht so, nicht mit all dieser Menschenverachtung!
    Flüchtlinge haben sich im Zeitalter schnellster Verkehrsverbindungen völlig verzweifelt von Ungarn zu Fuß auf den #MarchofHope gemacht, Richtung Österreich und von dort Richtung Deutschland. Orban hat die Gesetze verschärft (laut FAZ), das Parlament muss noch abstimmen. Er ließ die Polizei gegen 2800 Flüchtlinge mit Tränengas vorgehen. Es gab Gewalt, Leid. Damit brechen er und sein Land alle Verpflichtungen, die ihnen die EU auferlegt. Ob es einen Hungxit geben wird?

    Ich selbst finde keine Worte. Ein Teil meiner Familie wurde von den Nazis aus Breslau gejagt, als "unnützes Leben". Zu Fuß führte sie die Flucht nach Bayern. Meine Oma, die mir immer eingeschärft hatte "wehret den Anfängen", ist zum Glück längst gestorben. Sie hätte es ganz sicher nicht ertragen, dass im Europa des 21. Jahrhunderts völlig verzweifelte Menschen aus einem angeblich sicheren EU-Staat zu Fuß hunderte von Kilometern flüchten müssen.
    Freiwillige sind unterwegs, um zu helfen, bei Twitter vernetzt man sich. Jetzt könnte die EU endlich ein menschliches Gesicht zeigen!
    Ich werde jetzt schweigen und zu verdauen versuchen.
    Jemand twitterte gerade: "Jetzt haben die Flüchtlinge Europa in die EU gebracht."

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  2. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Danke für diesen Artikel, Petra.
    ...

    Ein Gruß zu dir
    Ele

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    1. Liebe Ele,
      ich hatte gestern bei Twitter nicht genügend Platz ... ich muss gestehen, am Tag, bevor ich den Artikel schrieb, war ich so im emotionalen Aufruhr, dass ich gar nicht schreiben konnte, schon gar nicht durchdacht. Und als der Artikel stand und ich die Nachrichten bei Twitter las, dachte ich, ich wäre im falschen Film gelandet oder in einem Paralleluniversum, zumal ich noch kurz zuvor den Film "The March" gesehen hatte. Wer da nicht fassungslos ist ... und natürlich fühlt man sich dann zunächst ausgeliefert an die Umstände.

      Aber genau letzteres muss nicht sein. Das haben die Flüchtlinge gezeigt, als sie - viele am Bahnhof noch bereit zu sterben oder zum Hungerstreik - sich plötzlich zu Fuß aufmachten auf den March of Hope. Das kann uns, um in den Worten jenes Films zu bleiben, eine Lehre sein: Ihre Begeisterung für Europa und seine Werte wieder zu teilen (ich hatte da einen Knödel im Hals bei Twitter, bei manchen Aussagen) und zu wissen, dass da immer noch ein anderer Weg ist, den man gehen kann.

      Wir werden als Einzelpersonen die EU nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa umbauen können. Aber wir können einzelne Schritte tun und wie Schneeflocken eine Lawine in Gang setzen.

      Wir können mit Bedacht wählen gehen, denn wer nicht wählt, begünstigt immer die Extremen. Wir können einzelne Politiker anschreiben, von kommunaler Ebene aufwärts bis zur Bundeskanzlerin und ausländischen Regierungschefs (die ungarische Botschaft wurde gestern sogar angetwittert). Wir können mit Petitionen, Demonstrationen, Flashmobs etc. unsere Meinung ausdrücken - das gesamte Instrumentarium des Bürgerausdrucks. Wir können selbst politisch tätig werden.

      Außerhalb der Politik können wir humanitäre Aufgaben übernehmen oder Flüchtlingen das Einleben erleichtern. Das fängt damit an, den ausländischen Nachbarn freundlich zu behandeln und vielleicht zum Essen zu bitten, geht weiter in praktischer Hilfe für Flüchtlinge. Geld spenden, Sachspenden abgeben - die einfachste Möglichkeit. Sich informieren, wo helfende Hände gebraucht werden, eine weitere.

      Wir können schreiben, andere vernetzen und und und. Und ich denke, auch wenn es nur ein kleiner Schritt ist, den wir aus unserer Erstarrung machen - es bekämpft die Hilflosigkeit.

      Ich war gestern z.B. beeindruckt, wie sich spontan via Twitter gleich zu Beginn des Marschs ein spontanes Netzwerk gebildet hat von Leuten, die sich organisierten, um Wasser und Proviant zu den Marschierenden zu bringen. Es macht mir Mut, wie unprätentiös und selbstverständlich das vonstatten ging. Viele wollten sogar beim Transport der Menschen helfen. Aber dann kam die rechtliche Frage, das wäre Fluchthilfe etc. - keine Stunde später war ein Crowfundingprojekt ins Leben gerufen, das Anwaltskosten decken sollte, falls jemand verhaftet würde. Weil da Menschen waren, die einfach nur menschlich handeln wollten. DIESE Menschen machen mir Mut!
      Damit mutmachende Grüße,
      Petra

      PS: Diese Tipps gebe ich übrigens nicht aus dem luftleeren Raum heraus. Ich habe mir z.B. ein möglichst nahe liegendes Projekt gesucht, wo ich helfen kann und war bei der Recherche danach sehr erstaunt. Ich muss dafür nämlich über die Grenze, nach Deutschland fahren! Das wiederum hat mich dazu gebracht, Dinge wie die hier zu recherchieren ...

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  3. Unsere Hilflosigkeitsgefühle helfen uns leider auch nicht weiter. Wir müssen unsere Regierungen dazu bringen, die alten ausgehandelten Bedingungen der EU kurzfristig außer Kraft zu setzen. Dublin II war ja sowieso menschlich nicht tragbar. Schon gar nicht für die Mittelmeerstaaten, die damit völlig überfordert waren. Nein zu dem, was sich da jetzt abspielt, und ein lautes Nein, zu den zögerlichen Politikern, auch in den einzelnen Bundesländern. Und ein ganz klares Nein zu der Aufteilung in nützliche und unnützliche Flüchttlinge. Das ist einfach nur ekelhaft. Schön ist, dass so viele Menschen sehr tatkräftig helfen, das gibt mir wieder Hoffnung.

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    1. Dieses erste Gefühl der Ohnmacht kann ich schon verstehen, man ist einfach erst mal fassungslos, was da passiert. Ich persönlich bin immer wieder erstaunt, wie "vergesslich" die Politik ist. Gestern noch haben alle über eine mögliche Insolvenz Griechenlands gejammert und jeder weiß, dass dieses Land über viele viele Jahre an seiner Last zu tragen hat. Und dann lässt man es mit der Flüchtlingsfrage fast allein. Vom Chaos in Italien nicht zu reden. Und dann gestern noch die Antworten Osteuropas, die haben mich besonders entsetzt. Weil gerade die Polen eigentlich sensibler wissen müssten, was Vertreibung und Emigration bedeuten.
      Deshalb gebe ich dir recht - es ist an uns BürgerInnen, auf die Politiker einzuwirken. Vom persönlichen Brief über Petitionen und schließlich Wählengehen gibt es ein doch immer wieder effektives Instrumentarium. Und dass die Menschen selbst sich anders verhalten, gibt auch mir Hoffnung, wenngleich die Stimmung auch mal kippen könnte, wenn sie von Leuten wie Orban instrumentalisiert wird.

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  4. Warum laden Sie denn die Leute nicht in Ihre Komfortzone ein, bevor Sie über Leute urteilen, die dazu gezwungen werden?

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    1. Und warum urteilen Sie anonym über Leute, die Sie nicht kennen? Sie wissen doch gar nicht, ob ich in einer "Komfortzone" lebe und wie ich mich engagiere? Ich denke, das muss ich auch nicht an die große Glocke hängen, denn von meinen Eltern und auch Vorfahren weiß ich, was Flucht bedeutet - und wie unendlich wertvoll humanitäres Handeln und Mitmenschlichkeit sind.

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