Pitching for the devil

Du steigst in eins der staatlich zugeteilten selbstfahrenden Autos ein und begibst dich zu deinem Amtstermin. In Strasbourg, der Zentrale, setzt du dich an den "Visio-Schalter". Auf dem Bildschirm erscheint ein Sachbearbeiter aus Paris, du bist per Webcam mit ihm verbunden und kannst deine Formulare und Papiere per Scanner vorzeigen. Schöne neue Welt? Zukunft? Ersteres vielleicht, letzteres auf keinen Fall. Nur das selbstfahrende Auto ist noch nicht umgesetzt, die Visio-Guichets gibt es neuerdings in Frankreich.

Ernestine, deine neue Sachbearbeiterin


In meinem anliegenden Fall habe ich es allerdings noch mit echten Schalterangestellten zu tun, die sich neuerdings hinter Glas verschanzen und wo ich per Internet - angemeldet in einem Terminsystem - einen persönlichen Termin beantragen muss. Mit Sozialversicherungsnummer, damit man auch wirklich weiß, wer da kommt. Ohne Internettermin ist dieses Amt absolut nicht mehr zugänglich, eine Festung. Im letzten Jahr konnte man noch einfach hereinschneien, eine Nummer ziehen und warten. Die Termine werden jetzt im Zehn-Minuten-Takt vergeben, keine Zeit für zwischenmenschliches Geplauder oder kompliziertere Fälle. Einfach zwei Termine hintereinander buchen, weil mein Fall etwas aufwändig zu erklären ist? "Sie haben bereits einen Termin genommen, entscheiden Sie sich!" So ein Computer ist unerbittlich. Am Dienstag darf ich 35 Kilometer fahren, um mich fünf Minuten vorher anzumelden, sonst ist der Termin perdu und alles beginnt von vorn. Und dann ratzfatz zur Sache kommen. Zehn Minuten, die über eine Existenz entscheiden können. Immerhin habe ich Pitching in meinem Beruf gelernt.

Zuerst habe ich gejubelt. Endlich geht Frankreich modernen Zeiten entgegen! Im Zeitalter der ungeliebten Super-Departements keine schlechte Lösung. Denn dank Hollandes Bereinigung der Landkarte gehören wir hier plötzlich zu einem fremden Canton, zu dem wir über ein Gebirge fahren müssen. Die Leute hinter dem Gebirge waren uns noch nie geheuer, die hohe Rate der Le-Pen-Anhänger dort auch nicht - aber sie regieren jetzt unsere kantonalen Belange (und deshalb hat hier keiner gewählt). Wenn wir erst mit Ardennen und Champagne vereinigt sind, jenen noch fremderen Landstrichen, dann wäre es vielleicht gar nicht so übel, den Amtskram ins Netz zu verlagern? Wer fährt schon gern nach Metz für zehn Minuten ... Visio-Schalter - das ist doch absolut genial! Ich setze mich in Hinterduponthouse vor den Computer und schnacke per Webcam mit dem Sachbearbeiter in Paris. Und der Mann kommt endlich mal in seinem Leben wenigstens virtuell herum und lernt, dass das Elsass tatsächlich zu Frankreich gehört! Endlich werden auch ländliche Gebiete versorgt!

Man soll sich nicht zu früh freuen. Unlängst kam mir nämlich ein Verdacht. Da hatte ich eine "assistante sociale" als Beraterin aufgesucht, weil ich mit einem Krankenkassenproblem absolut hilf- und ratlos war. Das sind Angestellte des Landesparlaments, die wie ein Bürgerbüro bei Problemen weiterhelfen, aber gleichzeitig auch Bedürftige betreuen. Die Frau ist wunderbar bemüht und eine Perle, nimmt sich Zeit. Aber bevor wir anfingen, schaut sie mich ernst von unten herauf an und sagt:

"Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich dieses Gespräch aufnehmen muss. Sind Sie damit einverstanden?"
- "Was ist, wenn ich nicht einverstanden bin?"
- "Dann können wir das Gespräch leider nicht führen, dann müssen Sie Ihre Fragen schriftlich einreichen."
- "Und warum wird das gemacht?"
- "Es ist uns von Amts wegen vorgeschrieben. Für interne Belange. Es bleibt absolut vertraulich."

Ach so, haha. Ich erinnere mich noch an die Protestplakate vor Jahren auf den Sozialämtern und bei den Bediensteten des Conseil Général, wo man gegen einen Beschluss Sarkozys protestierte. Der hatte damals verlangt, dass alle Sozialhilfeempfänger von den Sachbearbeitern bei der Polizei gemeldet würden, weil Sozialhilfeempfänger überdurchschnittlich oft in Verbrechen verwickelt seien. Im Zuge des "Plan Vigipirate" sollte das möglich sein. So nennt sich die Sicherheitsstufe im Staat, um vor Terrorismus und Anschlägen zu schützen. Man hat ihn seit Jahren nicht heruntergefahren und die Dauerstufe Rot soll nun unter der Regierung Hollande als "Opération Sentinelle" zum Alltag werden. Möglichkeit der kompletten Überwachung - jederzeit.

Die Protestplakate der Angestellten sind also verschwunden und auf irgendwelchen Festplatten ist jetzt alles gespeichert, von allen, nicht nur den Bedürftigen. Bürgerbürodatei: Mein Klagen über die Dysfunktion der Krankenkasse und mein wortloses Haareraufen, mein persönliches Wehwehchen und die Art, wie ich auf freundliche Hilfe reagiere oder trotze, weil sich der ominöse Brief, um den es geht, als Schikane entpuppt. Dass es Schikane war, sagt mir die freundliche Frau aber erst, als das Aufnahmegerät ausgeschaltet ist. Ich sei nicht die einzige, die es trifft ... Das hat Methode, lese ich zwischen den Zeilen.

Nein, die "Verinternetzung" bietet nicht mehr Komfort und Bürgernähe. Die Behörden schotten sich ab, viele schließen. Beratungsstellen werden zu Dönerbuden umgebaut und im Luxusfall von Banken gekauft. In Straßburgs Außenbezirken sind riesige Archivfabriken entstanden, in denen nicht besonders qualifizierte Arbeitskräfte Dossiers hin- und herfahren, einscannen und aus Modulen Amtsbriefe basteln. Da kann es schon einmal vorkommen, dass man mich, wie im aktuellen Fall, drauf hinweist, dass meine Anlaufsstelle im Jahr 2012 von Dann bis Dann geschlossen ist.

Vorbei die Zeiten, als man seine Sachbearbeiter noch persönlich kannte, sie mit komplizierten Fällen vertraut waren oder immerhin das richtige Dossier fanden. Jetzt gelangen die Papiere bei jeder Handlung in andere Hände, sind austauschbare Daten geworden, unpersönlich. Bei jeder Anfrage müssen wir alle Papiere noch einmal in vollem Umfang schicken, weil die alten beim Abschluss der letzten Durchsicht vernichtet wurden. Immense Papiervernichtungsfabriken, die Unmengen von Daten produzieren, die zentral erfasst werden. Wenn wir Pech haben, müssen wir den Sachbearbeitern von Paris immer erst erklären, dass das Elsass nicht in Deutschland liegt, aber in vielen Belangen noch vom alten deutschen Gesetz profitiert. Dann sind die zehn Minuten um.

Im letzten Jahr auf der Krankenkasse war der neue Wind deutlich zu spüren. Wo man einst bei drei Schaltern absolut freundlich und zuvorkommend beraten wurde, waren zwei Schalter zurückgebaut. Die unerfahrene Angestellte im letzten verbliebenen war auf Marke Bärenbeißer gedrillt: Nicht zuhören und abwimmeln. Einfach erst mal abwimmeln, es sei denn, es handelt sich um eine Routine. Im überfüllten Wartezimmer eine Stimmung, wie man sie in Frankreich immer häufiger findet: Da sitzen jetzt die zornigen Wutbürger und schimpfen - sie sind die einzigen, die noch miteinander reden. Und da sind diejenigen, die resigniert, stöhnend und schnaufend Cocooning im eigenen Smartphone suchen. Ab und zu erbarmt sich jemand und erklärt einer hilflosen alten Frau, wie die schöne neue Welt funktioniert. Wie wird die sich künftig den Amtstermin per Internet besorgen?

Es werden nicht mehr nur Gespräche aufgezeichnet. Die Amtsfabrik produziert riesige Datenpakete. Und wenn ich in meinem Canton dann endlich die Visio-Schalter haben werde, dann werden sie auch mein Gesicht dazu filmen, sämtliche Papiere und alles, was ich zeigen will, einscannen. Damit eine noch größere Datenfabrik Ich-Will's-Gar-Nicht-Wissen mit meinen Daten anstellt. Aber wir müssen uns ja auch vor Terroristen schützen! Wie war das ... Sozialhilfeempfänger könnten eine Gefahr sein. Bald wird sich die Gefahr ausbreiten. Die Wutbürger in den Wartezimmern, die man sich mit der "Rendezvous-Software" vom Leib hält, denen man nur noch zehn Minuten fürs Pitching gibt ... die werden draußen nicht ruhiger werden.

Ach ja, das Pitching. Ich habe das für Verlagsbewerbungen gelernt: "Stell dir vor, du begegnest deinem Traumverleger im Aufzug und hast genau eine Minute Zeit, ihn von deinem Manuskript zu begeistern!" Was mache ich jetzt mit meinen totalerfassten zehn Minuten vor dem Glasverhau? Sage ich, dass der Amtsbrief nicht stimmt, weil da 2012 drinsteht und der Rest auch Humbug sein muss? Dann habe ich meine Chance vertan, man wird mich wegerklären wollen.

Sage ich denen, die jene Daten irgendwann einmal abgreifen könnten, dass ich mich vor mir selbst grusle, weil ich mir schon bei diesem Blogbeitrag vorkomme, als hätte ich Paranoia? Oder dass ich kurz davor bin, ihnen meinen letzten Stuhlgang zu zeigen, damit sie wirklich alles von mir wissen? Dann holen sie mich gleich ab. Oder soll ich beglückt die Glasscheibe küssen, aus Freude, noch einen echten Menschen aus Fleisch und Blut vor mir zu haben, der auch nicht mehr aus seinem Glaskasten ausbrechen kann und keine Schuld trägt? Der genauso frustriert ist wie ich, weil er sich seinen Beruf einmal ganz anders vorgestellt hat? Was dann? Pitching for the devil ... das hat uns keiner in der Schule gelehrt.

Aber wahrscheinlich wird es enden wie jedes Mal. Irgendein Marokkaner wird mir erklären, wie das funktioniert, weil er es schon mehrfach durchlitten hat. Und ich werde mein kleines bißchen Laienwissen mit irgendeiner alten Frau teilen, die Tränen in den Augen hat, weil sie die schöne neue Welt nicht mehr versteht. Wir müssen uns das letzte bißchen Menschlichkeit bewahren, jetzt erst recht. Unsere Zukunft könnte in einem Raum des Anfassens liegen, des Angefasstseins ...

1 Kommentar:

  1. Es gibt eine überraschende Fortsetzung zu diesem Beitrag: "Die wunderbare Ernestine" vom 12.5.15 http://cronenburg.blogspot.fr/2015/05/die-wunderbare-ernestine.html (oder meinen Namen hier anklicken)

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