Gesucht: #HowStupidRobot oder das Vergessen

Manchmal ist mein FB-Stream fast orange. Unter dem Hashtag #HowOldRobot laden Leute lustig und ohne Hintergedanken ein Portraitfoto hoch, um ihr Alter schätzen zu lassen. 210.000 Bilder bis jetzt. Kaum einer riecht Lunte bei der peppig orangefarbenen App (inzwischen sind Hinweise angebracht), obwohl das Viereck mit dem Gesichtsausschnitt an die Software für biometrische Passfotos erinnern könnte. Genau so werden nämlich biometrische Daten erfasst.
#HowOldRobot
Die SZ u.a. klären nun auf, dass dahinter die Firma Microsoft steckt, die Leute dazu bringt, via App ihre "Maschine" zu füttern. Spaß soll es machen. Und Spaß hat die Firma, denn das ach so harmlose "Gimmick" verteilt sich rasend schnell um den Globus. Biometrische Gesichtserkennung ist das Ziel, was sonst - die Robots des Systems sollen durch die Massen von Gesichtern lernen, sollen besser und treffsicherer werden. Und war da nicht mal etwas mit einem gewissen Geheimdienst, der sogar amerikanische Konzerne anzapfte? Ach, bloß sich nicht den Spaß verderben lassen ... Nur ganz vereinzelt wird Kritik laut, machen Menschen sich Sorgen: "Überreaktionen", wiegelt die Firma ab. Mashable meldet gehörige Zweifel an.

Ich will jetzt gar nicht weiter darüber nachdenken, ob Microsoft die Daten tatsächlich löschen wird oder welcher Geheimdienst sie vorher abfischt. Und ich will nicht darüber reden, dass die Lernergebnisse der lustigen Abfrage nach Geschlecht und Alter eines Tages in einer Rasterfahndung zur Verhaftung führen könnten. Aber nein, nur keine Dystopien bitte, je "schlauer" unsere Maschinen werden, desto sicherer wird schließlich die Welt! Künftiger Missbrauch? Undenkbar. Unsere Demokratien sind doch unverrückbar und sicher.

Sicher. Nur keine Unwägbarkeiten mehr. Während um uns das altvertraute Gefüge aus dem Leim geraten scheint und wir Probleme haben, die Komplexität der Welt zu begreifen, klammern wir uns an der vermeintlichen Sicherheit fest wie an einem Strohhalm. Wir versichern uns nicht nur gegen Zahnschäden, sondern auch das Haustier gegen Krallenpilz, stochern nach sicher gesundem, fairen und gewissensberuhigendem Essen auf dem Teller herum und gehen nur noch aus dem Haus, wenn uns die Wetterapp und die App, die unseren Kreislauf überwacht, das auch erlauben.

Nein, ich will etwas anderes erzählen. Eine Geschichte aus einer fernen, vergangenen Welt. Ich habe ein Schubladenprojekt, bei dem es um das Thema "Vergessen" geht. Eines Tages entdeckte ich die atemberaubende Geschichte eines Wunderkinds aus dem 20. Jahrhundert, das einen Weltbestseller geschrieben hatte. Das Mädchen war hochbegabt, wurde von seinen Eltern gefördert und brachte wunderbare Texte hervor. Schrieb ein Buch nach dem anderen und musste dann erleben, woran so viele Hochbegabte scheitern: Alltagsprobleme, soziale Veränderungen. Die Scheidung der Eltern. Das vermeintlich sichere Gefüge ihres Lebens brach zusammen. Aber weil sie die Mutter nun auf Reisen mitnahm und die zeitweilige plötzliche Armut Erfindungsgeist benötigte, reifte die junge Frau literarisch nur noch mehr. Ohne das Sicherheitsnetz ihrer Kindheit konnte sie sich frei entwickeln.

Doch das Leben schreibt keine goldenen Romanzen. Sie beging den vielleicht größten Fehler ihres Lebens. Als könne man so etwas einfach beschließen, wollte sie, die Ausbrecherin, dem Rollenbild einer Frau ihrer Zeit entsprechen. Sie heiratete ... und wurde sehr schnell kreuzunglücklich. Zu jener Zeit schrieb sie schon lange nicht mehr. Und als ihr Leben an einem Tiefpunkt angelangt war, nahm sie eine kleine Summe Geld mit sich und sonst nichts und verschwand spurlos. Der Fall wurde nie geklärt. Doch die Umstände deuten darauf hin, dass sie eher keinem Verbrechen zum Opfer fiel, sondern freiwillig abtauchte. Sehr wahrscheinlich als Folge einer dissoziativen Fugue.

Die Krankheit, die sich oft von selbst heilt und nach traumatischen Erlebnissen besonders häufig vorkommen soll, hat für Außenstehende etwas Faszinierendes: Ein Mensch kippt von einem Moment zum anderen in eine andere Identität, mit neuem Namen, neuer Lebensgeschichte, ja oft sogar mit einer Reise über weite Strecken. Und dieser Mensch erinnert sich nicht an das Vorher. Sie oder er leben ein völlig neues, anderes Leben. Erst wenn die Seele stark genug scheint, öffnen sich beide Welten, wird die Wand zwischen den Identitäten durchlässig und die Erinnerung kehrt zurück. Gérard de Nerval soll das gehabt haben und auch Agatha Christie erlebte eine solche Episode.

Altbekannt ist der Witz vom Ehemann, der zum Zigarettenholen ging und nie wieder auftauchte. Für die Angehörigen ein traumatisches Erlebnis, für die Betroffenen eine Art unterbewusst selbst geschaffener Auszeit vom übermaßigen Außendruck. Jene Schriftstellerin hat man nie gefunden, weil man damals in den USA selbst mit der eigenen Identität leicht untertauchen konnte. Auch eine moderne Rasterfahndung hätte sie womöglich erst erwischt, wenn sie ein Flugzeug oder eine Kreditkarte benutzt hätte. Aber daran arbeiten wir ja noch: Nichts und niemand wird der Überwachung dereinst entgehen. Auch nicht eine Schriftstellerin, die sich kurzerhand von ihrem Ehemann zu befreien suchte. Sicherheit. Nur keine Auswüchse. Und Krankheiten schon gar nicht. Gegen seelische Störungen optimieren wir das Hirn, gegen andere Ausfälle basteln verrückte Wissenschaftler an Gensequenzen. Datenerfassung, Ausweispflicht, Datenüberprüfung - Sicherheit ...

Da fällt mir eine andere Geschichte des Vergessens ein. Es gab schon einmal eine Zeit, wo man das Leben sicherer machen wollte. Frankreich führte im 19. Jahrhundert ein Gesetz gegen "wildes Vagabundieren" ein mit entsprechenden Kontrollen. Hinter der vermeintlichen "Versicherung" steckte jedoch Kalkül: Endlich hatte man ein Mittel in der Hand, die Männer aufzugreifen, die sich dem Militärdienst entzogen! Zwar gab es Papiere, aber wenn jemand auf Wanderschaft ging, war er schwer aufzugreifen, Deserteure waren zahlreich. Vordergründig also die Versprechungen einer besseren Welt ("unsere Straßen und Städte werden sicherer") - hintergründig das Abgreifen von Menschenmaterial. Kommt jemandem das bekannt vor?

Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking hat eine recht verrückte These dazu aufgestellt: Er behauptet in seinem Buch "Mad Travellers", dass die dissoziative Fugue als Krankheit gar nicht existiere, sondern eine Art Auflehnung gegen das neue Sicherheitsgesetz war! 1909 sei schlagartig die Diagnose verschwunden. Ob es daran lag, dass man nun die Menschen noch leichter kontrollieren konnte? Die Betroffenen gleich ins Gefängnis oder in die Irrenanstalt steckte? Oder war nur einfach das verschwunden, was Hacking eine "ökologische Nische" für psychische Störungen nennt: der Zeitgeist, der bestimmte Verhaltensweisen pathologisiert und andere als erwünscht schützt? Tatsächlich kennt die Psychiatriegeschichte das Phänomen von Krankheiten, die womöglich gar keine waren, weil sie eng verquickt mit dem Zeitgeist einer Gesellschaft sehr begrenzt diagnostiziert werden. Seine These klingt steil, zu steil, was die Begrenztheit auf Frankreich und jenen Zeitraum betrifft.

Aber die Geschichte um den berühmt-berüchtigten "verrückten Wanderer" Albert Dadas, einem kleinen Angestellten der Gasgesellschaft in Bordeaux, liest sich absolut faszinierend - die Krankenberichte seines Arztes sind heute öffentlich zugänglich. Dadas brach immer wieder aus in seine "Reisepersönlichkeit", umging Papierkontrollen mit unwahrscheinlicher Raffinesse und landete irgendwann sogar in Moskau im Gefängnis. Hier rächte sich der echte oder gespielte Verlust seiner Papiere - er wurde zusammen mit anderen verdächtigt, am Attentat auf den Zaren beteiligt gewesen zu sein. Die Botschaft half ... zu einer weiteren Reise. Zwischendurch wurde Dadas immer wieder aufgegriffen und in die Psychiatrie verbracht - aber an seine Reisen erinnerte er sich dort nicht. Sein Arzt kam ihm mit einer völlig neuen Therapieform bei, die man im Übrigen in solchen Fällen auch heute noch anwendet: Hypnose.

Was hat das alles mit biometrischer Gesichtserkennung zu tun? Warum komme ich von Hölzchen auf Stöckchen? Zunächst einmal, weil es viel einfacher ist, Geschichten zu erzählen, als noch unfertige Gedanken auszuformulieren, die einen zu einem Thema umtreiben. Da haben wir auf der einen Seite unser übersteigertes Sicherheitsbedürfnis und eine Überwachungsmanie. Und auf der anderen Seite eine kuriose bis faszinierende psychische Störung, die gar keine Krankheit ist, aber immer dann ausbrach, wenn die Welt sicherer, enger, kontrollierter werden sollte.

Die Microsoft-App kann Geschlecht und Alter nicht feststellen: #robotfail
Angenommen, die These stimmt, dass jede Zeit ihre eigenen erfundenen Krankheiten hat, die mehr über die Verfassung einer Gesellschaft aussagen als über die Betroffenen. Welche "Störung" wird der Mensch entwickeln, der sich von allen Seiten und bis ins Intimleben ausspioniert und überwacht weiß? Was wird die neue Krankheit des beginnenden 21. Jahrhunderts werden, mit seiner zusammenbrechenden Intimität und dem Verlust persönlicher Geheimnisse, eine Störung, an der sich dann Generationen von Ärzten und Pharmakonzerne abarbeiten können, anstatt auf die Ursachen zu schauen?

Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Welche "Störung" könnten wir entwickeln, um einem System der Totalüberwachung zu entgehen? Einfach verschwinden - ist nicht mehr drin. Auf Wanderschaft gehen - bestens überwacht. Uns angeblich oder tatsächlich an nichts mehr erinnern? Kein Problem, das Internet weiß alles, speichert alles. Und vielleicht lässt sich in Zukunft eine verlorene Persönlichkeit im Direktdownload von der Global Security Agency besorgen, angenehm gesäubert von Ecken und Kanten, kompatibel mit jedem Wunschsystem und pflegeleicht für die Familie? Vergessen, löschen, depublizieren - mit all den immanenten Segnungen, die so etwas hat in einer Welt, in der die Informationen langsam überlaufen - alles nicht mehr drin.

Wir werden uns ganz schön etwas einfallen lassen müssen. Oder warten wir den Daten-Super-Gau ab? Jenen stillen Moment, wo unterm Datenstrom alle Systeme zusammenbrechen, die Verarbeitungssysteme an der Überfülle ersticken und so viele Daten über alles und jeden gesammelt sind, dass sie nutzlos werden, austauschbar. Bis keiner mehr klingende Münze für diese Unmengen an Trash zahlen will ... in einem Zeitalter der Datenverschmutzung?
Das aber würde heißen, dass wir Apps wie die von Microsoft künftig überfüttern, mit den Fotos unserer Haustiere und Lieblings-Comicfiguren, mit Fotos von nackten Hintern über Hemdenkragen und Baumgesichtern und allem, von dem wir wissen wollen, wie alt es sein könnte. Da versagt die App, denn Robots sind doof und schon gar nicht kreativ: "Sorry, if we didn't quite get the age and gender right" gab's für den dauererschöpften Donald Duck. Kreativität ist gefährlich!

2 Kommentare:

  1. Ha! Herrlich, dein Donald als #robotfail! Ich hab mich auch schon gefragt, was die Leute wohl dazu treiben mag, bereitwilligst ihr Konterfei da hochzuladen. Die Idee, den nackten Hintern über einen Hemdkragen zu hängen, muss ich direkt mal einem Netzfreund nahebringen, der für freche Störaktionen bestimmt jederzeit zu haben ist. :D

    Der Mittelteil deines Artikels ist auch wieder einmal unglaublich spannend. Da könnte ich so richtig eintauchen und versinken. Nicht im Vergessen ... aber in tausend Assoziationen und weiterführenden Gedanken ... oder in schubladisierten Projekten und Archivmaterialien. Hach!

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    1. Nachher bin ich schuld, wenn irgendwo eine Software explodiert ;-) Ich versteh's nicht ... in meiner Jugendzeit hätte man mit sowas seinen Schabernack getrieben. Heute reagieren alle stromlinienförmig brav, auf Knopfdruck. Leider ist das System schon so klug, dass es erkennt, ob da wirklich ein Gesicht ist, man müsste also etwas erfindungsreicher werden ;-)

      Freut mich besonders, dass mein Abschweifen ankommt! Solche Dinge will ich nämlich im neuen Blog öfter schreiben. Nennen wir es mal Gedankentreibstoff ...

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