Weichteile

Irgendwann habe ich einmal zu einem Schauspieler gesagt, Schriftsteller würden nur deshalb keine Schauspieler, weil sie den Exhibitionismus lieber heimlich betreiben. Wenn wir unsere Arbeit ernsthaft ausfüllen, öffnen wir nicht nur einmal kurz den Mantel über unserer Nacktheit, wir lassen ihn gleich ganz fallen. Nur bitte immer im stillen Kämmerlein. Nicht, damit die anderen nicht zuschauen können, das gelingt ihnen ja beim Lesen. Sondern vielleicht deshalb, weil wir uns schämen, den anderen dabei zuzuschauen, wie sie hinschauen?

Rabenblut schreibt in ihrem Blog über die "Brennende Intimität beim Schreiben" und gibt eindrücklich die Gefühle wieder, die wohl jeden Autor irgendwann einmal umtreiben. Und weil ich bei ihr leider aus technischen Gründen immer noch nicht kommentieren kann, spinne ich hier einen kleinen "interbloggären" Dialog. Es ist in der Tat erstaunlich, wie tief man in den eigenen Weichteilen kratzen muss, um gewisse Dinge überhaupt schreiben zu können. Und manchmal lässt es einen fast erröten, welche Lust man an der unsichtbaren Exhibition entwickeln kann. Der Witz ist nur: außer einem selbst merkt das kaum einer!

Den Härtetest habe ich mit meinem ersten Roman gemacht. Natürlich war der wild erfunden, natürlich habe ich hier und da mal bei realen Menschen eine Geste gestohlen oder einen Blick. Aber ich wusste auch, wovon ich schreibe - ich hatte wie die Protagonistin eine Scheidung hinter mir. Solche Konstellationen sind gefährlich, weil die heutigen LeserInnen kaum noch zwischen Fiktion und Realität unterscheiden mögen - oder können. Vor der ersten Lesung hatte ich entsprechend Angst: Was, wenn die alle glauben, das sei ich? Trotz aller Fiktion schneidet man sich die Geschichten ja doch irgendwie aus dem eigenen Fleisch.

Das Ergebnis war belustigend und erleichternd zugleich. Eine Frau spuckte bei einer Freundin Galle, ich hätte sie in einer Figur "verwurschtet" - dabei kannte ich diese Frau nicht einmal. Bei der Lesung fragten sie mich, wie ich denn diesen Irrsinn mit den komischen Typen ausgehalten hätte. Als ich sagte, wenn ich den Irrsinn meiner Protagonistin wirklich erlebt hätte, säße ich jetzt nicht vor ihnen, sondern in der Psychiatrischen, weil so etwas nur in Büchern funktioniere - wollte mir keiner glauben. So etwas kann man doch nicht erfinden?! Aber eine sprühende Fantasie hätte ich schon ... diese blödsinnige Szene vor Gericht etwa, also die sei schon ein wenig unglaubhaft überzogen geschildert.

So ist das also mit dem Ausziehen und der Außenwirkung. Die Szene vor Gericht war die einzige im ganzen Roman, die wirklich 1:1 aus dem Leben gegriffen war. Hier hatte ich mich hemmunglos exhibitioniert - aber es war wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Keiner wollte es glauben. Leser erlesen sich ihr eigenes Buch. Und das hat eine Menge mit ihren eigenen Gefühlen, inneren Verstecken und Ängsten zu tun. Sie projizieren ins Buch hinein und zunehmend auch in die Autoren. Jeder Leser bäckt sich seinen eigenen. Wenn man sich an einem Buch reibt oder beglückt, sagt das mehr über den Leser aus als über die Person des Autors.

Aber genau diese Magie der Projektionsfläche, womöglich der Identifikation, gelingt nur dann, wenn sich der Autor auch auszieht. Es gibt keine Patentrezepte dafür, Schreibratgeber passen hier nicht umsonst mit näheren Beschreibungen. Man bemerkt nur, wenn es fehlt. Wenn ein Buch kein Leben hat, wenn Figuren nicht wirklich Menschen, sondern Schablonen sind. Wenn dem Buch eine gewisse Tiefe fehlt, weil der Autor immer wieder Halt macht, anstatt all die verboten scheinenden Türen im eigenen Innern zu öffnen. Wenn er es tut, gerät ein Buch zu Leben, auch wenn vielleicht niemand sagen kann, warum das so ist.

Rabenblut schreibt: "Es nährt mich, ... es wächst immer noch." Solche Bücher entwickeln nicht nur ein Eigenleben für die Leser - sie sind Leben für die Autoren. Wenn ich ein Buch abgeschlossen habe und der Trauerprozess um die Ablösung beginnt (der in der Tat ein solcher ist), muss ich immer an den Spruch denken: Man steigt nie zweimal in den gleichen Fluss hinein. Jedes meiner Bücher - mit Ausnahme reiner Auftragsarbeiten - hat mich verändert, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Bei keinem meiner Bücher hatte ich solche Angst davor wie bei Nijinsky. Auf der Skala eines ländlichen Gewitters war dies der Blitzeinschlag, der ein ganzes Dorf in Schutt und Asche gelegt hat. Ich kann nie wieder diesselbe sein wie vor dem Buch - und das ist gut so. Es gab aber einen Punkt, an dem alles in Scherben lag und neu sortiert werden wollte.

Ich übernehme gern den französischen Ausdruck für Begeisterung (elsässisch: "Enthusiasmierung"), indem ich sage, ein Thema muss mich "beißen". Ich verrate jedoch selten, dass man sich seiner Geschichte auch mit Haut und Haar ausliefern muss. Denn es macht schon ein wenig Angst zu wissen, dass sie einen tatsächlich mit Haut und Haaren verschlingen könnte. Dies ist ein Transformationsprozess ähnlich wie in den schamanischen Geschichten, wo der Schamane von Wesen aus der Anderswelt bis auf die Knochen abgenagt wird, in Einzelteile zerlegt und schließlich von einer Art Schutzwesen wieder zusammengesetzt und ins Leben gebracht wird. Friedrike Schmoe schreibt in ihrem Blog gerade über erstaunliche Parallelen zwischen diesen scheinbar so verschiedenen Welten: Schreiben und Panik. Ein Buch - nicht jedes - kann solche Kräfte entwickeln.

Das macht nicht nur Angst, das macht vor allem verletzlich. In solchen Phasen muss man sich und das Manuskript schützen. Es sind die Momente, wo Dritte eine Geschichte zum Absterben bringen können und manchmal sogar Autoren zum Scheitern. Aber auch das gehört zu unserem Beruf dazu: zu erkennen, wann wir uns gefahrlos ausziehen können und wann die inneren Welten keine Nähe anderer dulden können. Weil sie noch zu zerbrechlich sind, weil sie erst wachsen wollen. Wie Orpheus steigen wir für unsere Leser in Unterwelten hinab und wissen um die Zerbrechlichkeit der Schemen, die wir dort finden. Wie Orpheus müssen wir aber auch in die Welt zurück.

Nicht alle Autoren gehen diesen Weg, wollen diesen Weg gehen. Es ist der gleiche Unterschied wie zwischen dem Sonntagsmaler und einem, der sich mit dem Farbspatel das Herz aus dem Leib kratzt. Es ist der Unterschied zwischen der Solistenpersönlichkeit und dem nach Tarifvertrag angestellten Triangelspieler. Man muss sich schon genau klarmachen, mit welchen Kräften man das innere Gleichgewicht zwischen den Welten bewahren will und womit man sie nähren kann. Irgendwann gibt es kein bequemes Hin- und Her mehr, kein Aussteigen und Umsteigen per Knopfdruck, irgendwann muss man sich entscheiden und den Preis zahlen, dass es kein Zurück mehr gibt. Dieses Geheimnis des Übertritts heißt Hingabe.

Vielleicht brauche ich deshalb in regelmäßigen Abständen eine Bühne und bin von Bühnenkünsten so fasziniert. Denn hier spüre ich den gesamten Prozess noch komplett, als Schriftsteller fehlt einem meist das beglückende Ende. Auf der Bühne gebe ich mich, sehr viel stärker fühlbar, weil auch der Körper dabei ist. Da fährt die Geschichte im wahrsten Sinn des Wortes ins Gebein. In dem Moment, in dem ich mich öffne, indem ich gebe, macht es das berühmte "Klick". Ich habe das Publikum. Es hängt an diesem geheimnisvollen seidenen Faden sehr spürbar. Als Nur-Autorin kann ich dieses Phänomen allenfalls vermuten, vielleicht bekomme ich auch einmal einen entsprechenden Leserbrief. Auf der Bühne kommt die Kraft direkt zurück, wird der eintretende Dialog sogar körperlich spürbar.

Bücher sprechen ihn heimlich, im Verborgenen. Aber es ist wie auf der Bühne: Obwohl ich bereit sein muss, meine Weichteile zu offenbaren, erscheint da draußen doch nur die Rolle - diese wichtige Schutzhaut. Und so paradox das klingt, erreiche ich die Verzauberung der anderen nur, wenn ich nicht meine Rolle "benutze", sondern sie auch "be-lebe". Diese Hingabe kennt kein Wenn und Aber. Sie ähnelt eher der schamanischen "Besessenheit" und macht darum denen, die sie nicht kennen, Angst. Die Kraft solcher Werke ist nämlich immens: Man fragt nicht mehr nach Eventualitäten, Akzeptanz oder gar idiotischen Marktmechanismen. In diesen Momenten weiß man einfach, dass es richtig ist, dass man das einzig Wahre und Richtige tut - und dass man das auch mit allen Konsequenzen leben muss. Würden Schriftsteller mehr Bühnenmenschen sein, dann wüssten sie, dass es da draußen immer Menschen gibt, die sich berühren lassen. Doch um andere berühren zu können, muss ich zuerst den mutigen Orpheus in mir selbst zulassen...

6 Kommentare:

  1. Liebe Petra,

    Deine Worte haben mich sehr berührt. Vor allem Deine Gedanken zur Hingabe, über die ich sicher noch länger nachdenken muss.

    Der Vergleich zur Schauspielerei drängt sich geradezu auf. Auch von manchen Schauspielern liest man, dass sie nach einem beendeten Film (ob es beim Theaterspielen auch so ist, kann ich nicht beurteilen) in ein regelrechtes Loch fallen. Sie haben alles gegeben und vielleicht hat es auch nicht die verdiente Beachtung gefunden. Am Theater ist der Applaus sicher ein wundervolles Geschenk. Vielleicht kann man sich als Autor dieses Gefühl im Kleinen bei seinen Lesungen verdienen.

    "Auf der Skala eines ländlichen Gewitters war dies der Blitzeinschlag, der ein ganzes Dorf in Schutt und Asche gelegt hat. Ich kann nie wieder diesselbe sein wie vor dem Buch - und das ist gut so."

    Diese Emotionen kann ich sehr gut nachvollziehen und ich wünsche Dir, dass dieses Projekt den verdienten Erfolg erhält!

    "Leser erlesen sich ihr eigenes Buch. Und das hat eine Menge mit ihren eigenen Gefühlen, inneren Verstecken und Ängsten zu tun."

    In der Theologie spricht man davon, dass man am "Du" erst sein "Ich" erkennt und ich denke, das ist genau das, was Du damit aussprichst. Der Leser ist der erweiterte Autor und erst seine Interpretation, seine Gedanken und Gefühle machen das Buch zu einem Buch, zu einer Lektüre.

    Vielen Dank, liebe Petra, für diesen ganz wundervollen Artikel!

    Herzlich
    Nikola

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  2. "Ein Teil der Arbeit ernährt, und der andere formt: Die Hingabe an die Arbeit ist es, was uns formt."

    Antoine de Saint-Exupéry, Die innere Schwerkraft

    (gerade durch Zufall entdeckt und für sehr passend befunden;-)

    Liebe Grüße
    Nikola

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  3. Liebe Nikola,
    freut mich, dass der Dialog über Bloggrenzen funktioniert - ich denke übrigens auch immer noch nach, das hier ist spontan laut gedacht, aber da ist auch noch so vieles unbedacht.

    Was du auch im Blog ansprachst: Dieser Angst, ob man verrückt sei, nur weil man anders ist (und letzteres sind Künstler zwingend), aber auch der typisch deutschen Romantikidee von "Genie und Wahnsinn" gehe ich ja auch im "Nijinsky" nach und da ist der letzte Gedanke noch nicht gedacht. (Nijinsky ist ein schönes Beispiel, wie man durch diesen Glauben jede kleinste Regung eines Künstlers stigmatisieren kann, ohne sie zu erkennen. Andersherum verhilft Wahnsinn nicht automatisch zur Kunst, sonst wären psychiatrische Kliniken Kunstzentren).

    Bei der Arbeit an diesem Thema sind mir Menschen aus anderen Künsten begegnet, die völlig selbstverständlich das annehmen, was man im Englischen treffender "alienation" nennt - und gezielt damit arbeiten. Ein Choreograf war mir da derart Augenöffner, dass ich seither nachdenke, warum so viele Autoren dieses ganz selbstverständliche Ausbilden davon so oft scheuen oder - in Foren sichtbar - so nach der Norm(alität) streben. Sitzen wir zu isoliert im Kämmerchen?

    Von da bis zu einem Essay über Faszination, das ich schreiben muss, ist es nicht weit - du hast also genau in mein Nachdenken getroffen...

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  4. ...ja, man kann das bei Lesungen spüren, vorausgesetzt, man nudelt sie nicht routinemäßig ab. ;-)

    Erfolg.
    Darüber habe ich gestern nachgedacht und festgestellt: Den habe ich bereits!
    Dass ich kleines Wutzelchen es ganz allein schaffe, ein Projekt ins Leben zu bringen, dass zuerst finanziell scheiterte und dann ganz knapp daran, dass man meinte, das Risiko sei zu hoch, weil die Engländer einen Ausstellungs-Katalog herausbrächten, das ist nicht nur ein Erfolg, das ist Triumph!

    Erfolg ist für mich auch, was für wunderbare Menschen ich dadurch kennenlernte und welche wertvollen Gespräche ich führte. Drei ganz besondere Menschen werden im Buch vorkommen, für mich ein großes Geschenk, dass ich sie kennenlernen konnte.

    Erfolg ist auch, was Nijinsky und die Ballets Russes mit mir angestellt haben. Das wird mich mein ganzes Leben lang begleiten, auch wenn ich längst bei anderen Themen bin.

    Erfolg ist, dass ich den bisher besten Text in meiner Laufbahn geschrieben habe. Immer noch verbesserungfähig, aber ich weiß jetzt, was ich kann.
    Und Erfolg ist, dass dieses Buch mir den Kopf zurechtgerückt hat, was ich in Zukunft für Bücher schreiben will und wie.

    Ja, klar, natürlich will ich, dass das Buch auch gelesen wird. Aber einerseits bin ich Realistin, die weiß, dass sie nicht mit einer Vertriebsmannschaft punkten kann - andererseits bin ich mir sicher, dass dieses Buch die richtigen Leute erreicht.

    Ich wünsch dir nicht, dass deine Wartephase schnell vergeht, denn du wirst in diesem Beruf ständig warten und leider immer länger warten. Ich wünsch dir stattdessen, dass du einen persönlich befriedigenden Weg findest, gar nicht mehr ans Warten zu denken. Und deshalb toitoitoi!
    Schöne Grüße,
    Petra

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  5. Vielen lieben Dank! Die Momente in denen man halsstarrig wartet, sind nicht gerade fruchtbar. Besser ist es tatsächlich, sich damit abzufinden und das Warten zu vergessen, da hast Du vollkommen recht.
    Die Realistin in Dir, schielt nicht auf Verkaufszahlen, sondern freut sich über die Leser, die sich für dieses Thema begeistern. Diesen Gedanken finde ich sehr schön: denn eigentlich geht es darum, den Menschen mit Büchern zu informieren, sie anzuregen und (das Wichtigst:) einfach nur sie gut zu unterhalten.
    Wenn im Fernsehen die Zuschauerzahlen explodieren ist man auch selten bei Arte oder 3Sat, sondern eher bei Pro7. Aus diesem Grund ist der reine Massengedanke wohl kaum kreativitätsfördernd. Hoffentlich kann ich genauso Realist sein wie Du!
    Liebe Grüße
    Nikola

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  6. Liebe Nikola,
    das beste Rezept gegen Warteweh und Ablösungsschmerz ist, das nächste Buch zu beginnen ;-)

    Ich denke, der Realismus kommt mit der Zeit durchs Abgebrühtwerden. Ähnlich wie bei deinen TV-Sendern habe ich durch meine sehr unterschiedliche Arbeit den verblüffenden Vergleich: Schriebe ich für Auflage, würde ich nur noch niedliche Tante-Erna-Zitatebüchlein aus Datenbanken zusammenkleben.

    Genauso habe ich erlebt, wie ein Riesenverlag ein Buch voll an die Wand fuhr, weil Nichts und Null dafür gemacht wurde - und wie ein mittelgroßer Verlag nicht nur eine wunderbare Auflage durch intensive Medienarbeit schaffte, sondern mich sogar damit ins Fernsehen brachte. Deshalb glaube ich nicht mehr an all das öffentliche Auflagengeschwätz abhängig von Verlagsgröße oder Genre, zumal inzwischen jeder weiß, wie erlogen die Zahlen in den Buchhandelsprospekten oft sind.

    Ich glaube aber der Leserin mit Tränen in den Augen, die mir bei einer Lesung gesteht, mein Buch habe etwas in ihr verändert.

    Schöne Grüße,
    Petray

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